„Hallo Eva, Du bist ja ständig unterwegs. Wo fährst Du immer hin?“
„Ich denke mal, dass SIE das nichts angeht und SIE sich nicht in der Position befinden, dass ich IHNEN darüber Rechenschaft ablegen muss“.
Boaah, warum kann sich nicht jeder um seinen eigenen Kehricht scheren? Was will der Typ eigentlich von mir und wieso duzt der mich überhaupt? So ging das nun bereits seit etwa einem halben Jahr, seit Evas Mann sie verlassen hatte und mit einer Jüngeren abgehauen war. Als wenn sie nun nicht genug um die Ohren hätte, mit den Kindern und so. Philip war 8 und Lena 11 Jahre alt.
Eva hatte sich eine Arbeit suchen müssen, um sich und ihre kleine Familie durchzubringen. Ihr feiger „Noch-Ehegatte“ hatte bisher noch keinen Cent gezahlt. Er war der Meinung, da er Eva und den Kindern ja die Wohnung überlassen habe, müsse er nicht für Eva zahlen. Selbst für die Kinder zahlte er nur insgesamt 300 €, da sie ja schliesslich auch das Kindergeld erhalten würden. Eva hatte alle nötigen amtlichen Schritte in die Wege geleitet und wartete täglich auf eine entsprechende Nachricht. Es half alles nichts, sie musste arbeiten und hatte sich bei mehr als 50 Arbeitsstellen beworben. Die allerdings bedauerten sehr, dass sie wegen der momentanen Wirtschaftssituation kein Personal einstellten oder bauten eher auf erfahreneres Personal. Das war natürlich schwierig für Eva. Seit fast 12 Jahren war sie aus ihrem Beruf als Bürokauffrau raus. Es wurden mittlerweile EDV-Kenntnisse vorausgesetzt, die sie nicht besass, weil seinerzeit die digitale Dimension noch nicht vorhanden war.
So zog Eva also dann, wenn die Kinder in der Schule waren, los, um sich bei weiteren Arbeitsstellen zu bewerben. Sie würde fast alles tun, um selbst Geld zu verdienen. Putzen gehen, Pflegedienst oder Kinderbetreuung und mehr. Leider war auch in diesen Bereichen nur qualifiziertes Personal gefragt oder man bevorzugte Arbeitskräfte auf Geringverdiener-Basis. Es stellte sich als sehr schwierig heraus, überhaupt einen Job zu bekommen, ohne die Aufsichtspflicht für die Kinder nicht zu verletzen. Auch rechnete man dann damit, dass man ausfallen würde, wenn eines der Kinder erkranken sollte. Mensch, in welcher Zeit leben wir nur…..?
So blieb Eva zunächst nur der Job in einer Gaststätte im Nachbarort, wo kaum jemand aus ihrer hiesigen Umgebung hin kam. Es sollte auch nicht jeder wissen, in welcher Not sie sich befand. Und so ging sie kellnern und lies ihre Kinder oft bis in den späten Abend hinein alleine zu Hause. Ihre Eltern wohnten in Bayern und ihre reichen Schwiegereltern befanden sich stets auf irgendwelchen Geschäfts- und Urlaubsreisen. So hatten also alle keine Zeit oder Gelegenheit, auf ihre Enkel aufzupassen, um die kleine Familie zu unterstützen. Wie sollte es nur weitergehen und wie lange würde das überhaupt noch gut gehen. Sie spürte, dass auch ihre Kinder sehr unter der finanziellen Belastung zu kämpfen hatten. Ab und zu bekamen sie von Robert an seinen Besuchswochenenden jeder 10 € in die Hand gedrückt, die sie dann brav ihrer Mutter übergaben, damit diese für ihren Lebensunterhalt aufkommen konnte. Die Situation nagte sehr an Evas Seele und dann auch noch die buckligen Nachbarn! Was ging die das überhaupt alles an? Eva war oft wütend. Besonders am vorletzten Donnerstag:
Sie verliess gegen 17.00 Uhr wie gewohnt ihre Wohnung, um zur Arbeit zu fahren, als sie von dem überheblichen Nachbarn Braun angesprochen wurde: „Du weisst schon, dass Du mit einer Anzeige beim Jugendamt rechnen musst, wenn Du Deine Kinder abends immer alleine in der Wohnung llässt. Was kann da nicht alles passieren. Kinder sind doch unberechenbar. Du kommst doch immer erst gegen 23.00 Uhr oder noch später nach Hause.“
Eva stockte der Atem. Jugendamt, Verletzung der Aufsichtspflicht, Anzeige? Das war zu viel. Bislang war sie immer sehr höflich und zuvorkommend gegenüber ihrer Nachbarschaft gewesen, hatte sich stets bemüht, nur angenehm aufzufallen, ab und zu einen Smalltalk vor der Haustüre gehalten oder auch geholfen, beim Einkauf behilflich zu sein, wenn es dem..dem…dem Blödmann seiner Frau mal nicht gut ging. Zwar hatte sie auch beobachtet, dass immer ein gewisser, ganz schnieke aussehender Mann, Frau Braun besuchte, wenn der Querulant zur Arbeit war, jedoch nicht weiter darüber nachgedacht, weil es sie ja nichts anging. Und nun machte dieser Stinkstiefel sie so übelst an und duzte sie auch noch! Aber nun wollte sie auch mal den Bösewicht raushängen lassen, holte tief Luft und antwortete, zwar mit zittriger Stimme, dafür aber sehr laut, so dass es die anderen Nachbarn hinter ihren Fenstergardinen auch unwillkürlich hören mussten: „Also, das eine will ich Ihnen sagen. Ich arbeite abends, um Geld für meine Familie zu verdienen. Aber während Sie, Herr Braun, Ihr Geld verdienen, vergnügt sich Ihre Frau hinter Ihrem Rücken mit diesem Schönling! Sie setzt Ihnen die Hörner auf! Sie bemerken ja noch nicht einmal, was in Ihrer eigenen Wohnung vorgeht! Kümmern Sie sich doch um Ihren eigenen Mist und lassen Sie uns in Ruhe. Ich will keinen Ton mehr hören! Und wenn Sie meinen, mich beim Jugendamt anzeigen zu müssen, dann tun Sie das bitte. Menschlichkeit ist Ihnen wohl fremd, oder billigen Sie etwa das Tun Ihrer Frau? PUNKT AUS UND SCHLUSS! Auf wiedersehen…. Herr… Braun!“
Eva drehte sich um und ging zu ihrem Fahrzeug. Aus einigen Fenstern hörte man sagen: „Dem hat sie es aber gegeben“ oder „endlich mal jemand, der dem Blödmann die Meinung gesagt hat“.
Herr Braun wurde abwechselnd rot und blass im Gesicht, wurde steif, wie ein Stock und eilte zu seiner Wohnung, aus der man kurze Zeit später nur noch Brüllen und Türe knallen hörte. Geschirr flog wohl offensichtlich auch, denn ein Teller hatte es geschafft, durch das geschlossene Fenster erst auf dem Hof zu zerschellen.
Seitdem wurde die kleine Familie mit viel mehr Respekt betrachtet und niemand hat mehr dumme Fragen gestellt oder sich darüber aufgeregt, dass Eva kellnern ging. Im Gegenteil, sie bekam sogar von der alten Frau Schmitz das Angebot, mehrfach abends nach dem Rechten bei den Kindern zu schauen oder sie sogar zum Essen zu sich zu laden.
Eva war nun stolz auf sich und sehr erleichtert. Allerdings war sie auch erstaunt über sich selbst. Das hätte sie sich selbst nicht zugetraut, jemandem mal so die Stirn zu bieten. Sowieso schien auf einmal alles viel einfacher zu laufen. In der Gaststätte kann sie neuerdings bereits vormittags um 11.00 Uhr anfangen, als feste Angestellte. So ist sie abends um 19.00 Uhr wieder zu Hause und verdient gutes Geld. Ihr „Noch-Ehemann“ muss mächtig Unterhalt für die Kinder bezahlen und der bucklige Herr Braun ist aus seiner Wohnung ausgezogen und hat seine Frau verlassen……..
Was will man mehr. Manchmal erfordern aussergewöhnliche Situationen eben aussergewöhnliche Handlungen…..
Christiane Rühmann
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen