Reality… (Dez. 2010)



Unumstößlich stand der Termin fest. Jetzt musste endlich was geschehen, wenn ich nicht in absehbarer Zeit am (Rollstuhl-)Rad drehen wollte.

Vor einigen Jahren habe ich solche Situationen immer hinaus geschoben. Nicht, weil ich Angst davor gehabt hätte, sondern weil ich einfach zu bequem war. Wieder Krankenhaus, wieder OP, wieder nach anderer Leute Nase tanzen oder auf Andere angewiesen sein….

Ich habe mich geändert, nehme jetzt alles gleich in Angriff, denn, wenn ich nichts verändere, verändert sich nichts… Also ran an den Speck.

Mir wurde bewusst gemacht, dass mein Vorhaben kein Spaziergang werden würde, man begrüßte jedoch auch meine Entscheidung, alles auf einmal richten zu lassen und sah dies als Herausforderung an. Ich mag Menschen mit krassen Entschlüssen, welche, die Entscheidungen treffen, auch wenn es schwierig werden könnte.

Also, nichts wie hin und zusehen, dass ich so schnell wie möglich wieder auf dem Damm bin. Etwa einundzwanzig Tage sollte mein Aufenthalt in der Klinik dauern, worauf ich mich auch eingestellt hatte. Leider war sie so weit von zu Hause entfernt, so dass abzusehen war, keinen Besuch zu erhalten. Also musste ich mich bekleidungsmäßig auch entsprechend ausrüsten und zog mit zwei vollgepackten Reisetaschen und natürlich meinem Laptop ins Spital.

Hat ein paar Tage gedauert, eh sich das Personal an meinen etwas außergewöhnlichen Humor gewöhnt hatte. Auch, dass ich ständig verschwunden war, musste man erst mal akzeptieren lernen. Zudem war ja auch noch Vorweihnachtszeit. Am 03.12. operiert, vier bis 5 Tage Bettruhe -so dachte man-, hatte aber die Rechnung nicht mit mir gemacht. Am 06.12., Nikolaustag, zog ich mit meiner mitgebrachten Nikolausmütze über den Flur in Richtung Treppenhaus, Ausgang, Raucherecke.

Der erste Zug war ein Erlebnis! Der zweite Zug – na ja, aber die zweite Zigarette, gleich im Anschluss war einfach nur ……lecker !

Nach dem Genusserlebnis stapfte ich also brav wieder die Treppe hinauf. Fahrstuhl? Nein, ich doch nicht! Wer rauchen kann, kann auch Treppen steigen. Auf der Station wurde ich bereits wieder erwartet.

„Alles in Ordnung? Wo waren Sie?“ wollte das Pflegepersonal wissen.

„Inhalieren“, gab ich zur Antwort, „jetzt ist wieder alles o.k.“

Mein Verhalten blieb auch den Ärzten nicht verborgen und so bekam ich schon recht bald den Spitznamen „Turnschuh“, was mir schmeichelte.

Ab da ging es in riesen Schritten bergauf. Im Ort gab es eine kleine Citymeile, die ich einen Tag vor dem Weihnachtsmarkt und dem Tag der offenen Tür am Sonntag, erkundete. Ich musste ja schließlich testen, ob ich mir am anderen Tag einen Weihnachtsmarktbesuch zutrauen konnte. Immerhin hatte ich mir vorgenommen, einen Glühwein zu trinken.

Alles klappte prima. Ich ließ mir richtig Zeit, um das kleine Städtchen zu erkunden. Der Glühwein war ein Genuss. Leider musste ich mein Vorhaben alleine durchziehen, weil meine Zimmergenossinnen schlappe Socken waren. Kein Selbstvertrauen, Angst vor Tadel und Angst vor den versicherungstechnischen Folgen, die ein Unfall zur Folge haben würde. Bei so viel negativen Gedanken, wollte ich meinen Nachmittag in der Tat lieber alleine genießen und tat es auch.

Weihnachtliche Musik aus meinem MP3-Player versetzten mich richtig in Weihnachtsstimmung. Ich genoss den Tag, wie jeden in meinem Leben.

Zurück vor der Klinik, am Aschenbecher stehend, eine Einkaufstüte in der Hand, begegnete mir der Chefarzt. Seine Blicke waren mir nicht entgangen, aber sein Augenzwinkern auch nicht. Ich liebe tolerante Menschen…..

Am anderen Morgen bei der Visite erfuhr ich, dass man meinen Entlassungstermin insgesamt um neun Tage verkürzen wollte, weil der Heilungsprozess so enorm sei, und es keine Veranlassung mehr gäbe, mich länger dort zu behalten.

‚Also gut‘, dachte ich und begann zu packen.

Nach dem Frühstück und der Morgenzigarette machte ich mich also am Folgetag auf den Weg zu meinem Auto, das zwei Straßen weiter auf einem kostenfreien Parkplatz auf mich wartete. Ich liebe meinen kleinen Wagen und rede immer liebevoll mit ihm. Selbst mit Streicheleinheiten bin ich nicht sparsam. Er hat mich noch nie im Stich gelassen. Nur diesmal – diesmal schien er beleidigt zu sein, dass er so lange auf mich warten musste.

Tief verschneit hatte er wohl noch nicht damit gerechnet, dass es bereits schon jetzt nach Hause gehen sollte. Ich steckte den Schlüssel in die Fahrertüre und wollte aufschließen.

Mist – zugefroren. Also stelle ich mich rückwärts, mit meinem Hinterteil an die Wagentür und halte meine Hand auf das Schloss in der Hoffnung, dass sich der Schlüssel im Schloss dann bewegen ließ.

Wieder nichts – was mache ich nun? Nur nicht aufgeben, nachdenken und Ruhe bewahren. Ich holte das Feuerzeug aus meiner Zigarettenschachtel und wärmte mit der Flamme den Schlüsselbart, steckte ihn schnell wieder ins Schloss und versuchte erneut zu öffnen. Immer noch tat sich nichts. Ich drehte mich erneut mit meinem Hinterteil dem Türschloss zu und wollte es noch einmal versuchen. Vergeblich!

Nasenspray, ja ich hatte doch noch Nasenspray in meiner Handtasche, das ist doch Kochsalzhaltig. Das könnte funktionieren.

Wieder nichts….!

Mittlerweile waren schon mehr als 25 Minuten vergangen. Man würde mich sicher vermissen. Egal, ich musste irgendwie ins Fahrzeug. Die Beifahrertüre konnte ich nicht schließen, da dort eine neue Türe mit anderem Schloss eingebaut war, nachdem mir in einer Baustelle ein Bagger rückwärts zeigen wollte, wer der Stärkere war.

Endlich, da kam eine junge Familie, die ihr Fahrzeug ebenfalls auf dem Parkplatz abgestellt hatte. Ich sprach den Herrn an, ob er vielleicht Eisspray habe. Ich stellte fest, dass die Familie eine Holländische, türkischer Abstammung war. Niemand von ihnen sprach deutsch – nur englisch.

Nun gut, das ging auch. Der Mann kam mit einem Kanister Kühlwasser-Frostschutz zu mir und begoss damit das Türschloss und den Türrahmen. Dabei versuchte auch er ständig, den Schlüssel im Schloss zu drehen. Nichts ging!

Was ist mit der Heckklappe? Die ließ sich bislang seit etwa zwei Jahren nicht mit dem Schlüssel betätigen, aber als der freundliche junge Mann es versuchte, ging sie plötzlich auf.

Wow, endlich! So kann ich sicher mit dem Regenschirm, der sich im Kofferraum befindet, eine der Innentüröffner betätigen.

Ich bedankte mich höflich bei der Familie, die schon bald verschwunden war. Es schneite immer noch und ich wollte nur noch weg.

Ich nahm den Schirm aus dem Kofferraum und stellte fest, dass meine Arme wesentlich zu kurz waren, um auch nur annähernd an die Türöffner zu gelangen. Was nützt mir dann der offene Kofferraum?

Mir blieb keine Wahl. Ich schaute mich um, ob mich niemand sah – kein Arzt in der Nähe war, betätigte die Knöpfe, die die Rücksitze umklappen ließen, hob mein linkes Bein und kniete mich in den Kofferraum. Mit der Krücke des Regenschirmes zog ich mich in das Wageninnere. Puh, das war geschafft. Ich krabbelte über die umgeklappten Sitze noch ein wenig mehr nach vorne, als mein Handy in der Jackentasche klingelte.

‚Wer stört‘, dachte ich und fuchtelte mit der linken Hand, ohne die Handschuhe auszuziehen, in meiner Jackentasche herum.

„Christiane Rühmann, guten Morgen“.

Die Anruferin wollte einen Kostenvoranschlag geschrieben haben. Ich erklärte ihr kurz, dass ich ein kleines Fahrzeugproblem habe und mich auf einem Parkplatz in Emmerich befinden würde. Ich wolle sie aber später zurückrufen, wenn es mir möglich sei. Ich müsse zunächst noch etwas klären.

Aus-Taste gedrückt, Handy zurück in die Tasche gleiten lassen und versucht, an dem Türöffner zu ziehen. Mist, er ließ sich auch von innen nicht bewegen. Boah, langsam kann ich mich nicht mehr halten. Ich verspüre ein Ziehen im Rücken. Jetzt versuche ich es auf der Beifahrerseite. Es bewegt sich was – warum nicht gleich so? Noch einmal kurz mit der Faust gegen die Innenverkleidung schlagen.

Geschafft, die Türe ließ sich öffnen. Weiter nach vorne wollte ich aber nicht krabbeln, zu schwierig, also wieder zurück. Sehr vorsichtig und langsam bewegte ich mich rückwärts wieder aus dem Fahrzeug hinaus. Zwar hatte ich nun wieder festen Boden unter den Füssen, aber es war sauglatt.

Der Vollidiot, der das ganze Spiel seit 45 Minuten von seinem Balkon aus verfolgt hatte, stand noch immer da und gaffte blöd. Mit einem Liter heissen Wasser hätte er mich schon längst aus dieser Misere befreien können. Er war halt eben ein Mann.....

Ich stieg auf der Beifahrerseite ein, steckte den Schlüssel ins Zündschloss, entfernte ohne Kupplung den eingelegten Gang aus dem Getriebe und startete. Na komm schon, lass mich jetzt nur nicht hängen! Nochmal – und der Motor sprang an. Das Gebläse stellte ich auf höchste Stufe und nahm den Eiskratzer, um das Fahrzeug endlich von Schnee und Eis zu befreien.

Da sich die Fahrertüre immer noch nicht öffnen ließ, stieg ich nachdem wieder auf der Beifahrerseite ein. Wie komme ich jetzt über den Tunnel? Ich kann meine Beine noch nicht so heben. Nimmt das denn nie ein Ende? Sollte das ein Zeichen sein, noch da bleiben zu müssen? Ich nahm zum letzten Mal meine gesamte Kraft zusammen, biss die Zähne fest aufeinander und schaffte es tatsächlich, das linke Bein in den Fußraum der Fahrerseite zu setzen. Und was mache ich nun mit dem rechten Bein? Ich saß mit meinem Allerwertesten auf der Handbremse, die ich angezogen hatte, weil ja kein Gang eingelegt war. Die unbequeme Härte der Handbremse spürte ich kaum, denn mein Hintern war eh eingefroren.

‚Du schaffst das‘ motivierte ich mich, ‚nur nicht aufgeben‘!

Mit viel Gefühl, Kraft und Ausdauer gelang es mir, das rechte Bein schließlich nachzuziehen.

„Juchhuuuu, geschafft!“

Die Türe ließ sich immer noch nicht öffnen, obwohl es langsam im Fahrzeuginneren warm wurde. Erst mal tief durchatmen und dann ganz gefühlvoll losfahren. Merkwürdiges Gefühl. Mit dem Korsett um meinen Leib war die Sitzstellung auch nicht mehr richtig. Also nun neu justieren. Ja, so könnte es passen. Ich versuche erneut, die Fahrertüre zu öffnen. Aah, endlich. Jetzt war sie wohl endlich aufgetaut. Ich öffnete sie und zog sie gleich wieder zu.

Ich fahre los und rolle kurze Zeit später vor der Klinik vor.

„Christiane, wo warst Du denn so lange? Wir dachten schon, es wäre etwas passiert. Ist alles in Ordnung?“

„Jaja, musste nur etwas Eis kratzen. Wie Ihr wisst, bin ich ja nicht mehr so beweglich. Es hat halt eben gedauert,“ entgegnete ich und machte mich auf den Weg in mein Zimmer, um das Gepäck zu holen.

Ich spürte in mich hinein. War wirklich alles in Ordnung? Ja, passt schon! Abschied auf der Station und die Ermahnung, ja auf mich aufzupassen und die Aufforderung, bei Wiedervorstellung mal vorbeizuschauen, lassen mich breit grinsen.
Es war schön hier.

Ein freundlicher Besucher half mir dabei, das Gepäck in dem Kofferraum zu verstauen. Umarmend verabschiede ich mich von meinem „Raucherclub“. Alle winken mir nach, ich winke zurück.

Hah, wenn sie alle wüssten.....

Dem Vollidiot auf dem Balkon wünsche ich, dass er für die kommenden 4 Wochen dort angefroren bleibt, als ich an seinem Haus vorbei fahre.

Endlich geht´s nach Hause……

© Christiane Rühmann

Wettrodeln

Weiss setzt sich der Schnee hinab auf die Natur.
Bedeckt Haus, Wald, Weid und Flur.
Läßt Kinderherzen höher schlagen
und erste Schneeballschlachten wagen.

Aus eines Kellers Rumpelecke,
holt Erwin seine Rodelschnecke.
Sie muss wieder hergerichtet werden,
um Sieger beim Wettbewerb zu werden.

Auf Holzblöcken hoch aufgerichtet,
er auf die Speckschwarte nicht verzichtet,
die die Kufen pushen soll,
dann flitzt er wieder - richtig toll.

Um nicht ganz hart zu sitzen,
und dabei kommt er fast ins schwitzen,
befestigt er mit grosser List ein Kissen,
warum, wird er wohl noch vom Vorjahr wissen.

Schon prima sieht sein Schmuckstück aus,
drum stellt er´s vor den Keller raus
und betrachtet es bei Tageslicht.
Nur die Farbe gefällt ihm noch nicht.

Also wieder in den Keller runter.
Und hier sucht er dann noch munter
den buntesten, spektakulärsten Lack
für sein betagtes Rodelwrack.

Den Oldi flink auf die Böcke drauf,
hebelt die pinke Lackdose auf,
sucht Pinsel und das Schleifpapier
und findet noch ne Kiste Bier.

Au ja, das wird ein schöner Abend,
dabei sich noch am Bierchen labend,
denkt er und ruft Freund Paule an,
der auch immer gut anpacken kann.

Paule kommt sofort mit großem Eifer
und nach drei Bierchen schon was steifer,
um zu helfen seinem besten Freund,
der bereits jetzt schon vom Siege träumt.

Jetzt wieder runter mit dem Kissen,
nun war´s im Wege, müsst Ihr wissen,
und los geht’s mit der Schleiferei –
das nächste Bierchen stets dabei.

Nun steht er da, in purem Ton,
der Paule rührt die Farbe schon,
während Erwin sich ans pinseln gibt,
was er im allgemeinen liebt.

Bald ist er spektakulär angetünscht,
so, wie sich´s Erwin hat gewünscht.
Dann kanns ja auf die Piste gehen,
die anderen werden dann schon sehen!

Es ist soweit, das Rennen startet,
nur auf Erwin hatte man noch gewartet,
weil der nicht in die Puschen kam,
mal wieder zu viel Zeit sich nahm.

Nun ist er da und es geht rund,
mit seinem Rodel "Kunterbunt".
Oft mit der Stirne kräftig runzelnd,
wird er von vielen hier beschmunzelt.

Sein Outfit fand man oft empörend,
was für ihn partout nicht störend.
Nur auffallen, um jeden Preis,
das macht den Erwin erst richtig heiß.

Der Startschuss fiel, auch das Visier,
und unser Freund, bereits Platz vier,
ging wiedermal aufs Ganze
und flog gekonnt über die Schanze.

Gut, dass er das Kissen hatte,
denn es krachte eine Latte,
was ihm jedoch nicht imponiert,
weil er auf das Pistenende stiert.

Einen bereits wieder hinter sich gelassen,
musst er nur noch zwei sich fassen,
um den begehrten Pokal zu kriegen
und auch in diesem Jahr zu siegen.

Gedacht, getan, ein Mann, ein Wort,
sein Eifer grenzt schon fast an Mord.
Jetzt hatte mit seinem alten Kasten,
auch die anderen hinter sich gelassen.

Belächelt, bejubelt und geschunden,
hat der Oldtimer die Piste bezwungen.
Auch sein Pilot – ein Held jetzt war,
denn Erwin zählte bereits 80 Jahr.

Im nächsten Jahr soll´s weiter geh´n,
er will wieder auf der Piste stehen.
Und schon jetzt freut er sich riesig drauf,
denn ein Erwin gibt niemals auf.

© Christiane Rühmann

Nichts…. (eine herzzerreissende Weihnachtsgeschichte)

Es ging bereits wieder mit riesigen Schritten auf Weihnachten zu. Schon wieder war der zweite Advent vorbei und Noah hatte noch immer kein Geschenk für seine Pflegeeltern. Der quirlige kleine Kerl war gerade mal 9 Jahre alt und trug sein Haar fast Schulter lang. Es lugte unter seiner braunbeigen Bommelmütze hervor und ließ ihn richtig kess ausschauen. Sein wattierter Anorack in weinroter Farbe zeigte jedoch deutlich, daß hier kaum Geld vorhanden war, neuere oder modernere Kleidung anzuschaffen. Noah lebte seit fast fünf Jahren in einer Pflegefamilie, nachdem seine Eltern bei einem Bahnunglück ums Leben gekommen waren. Zunächst wurde er mit seiner ein Jahr jüngeren Schwester Lena in einem Kinderheim aufgenommen, aber schon bald meldeten sich Interessenten, ein kinderloses Ehepaar, die solchen armen kleinen Existenzen ein neues zu Hause geben wollten. Leider konnte an sie nur eines der Geschwister vermittelt werden, aber auch Lena fand bald darauf eine Pflegefamilie, in die sie einziehen konnte. Nicht einmal fünf Straßen wohnten sie auseinander, so daß sie sich sogar des Öfteren besuchen konnten. Noah´s Pflegeeltern lebten in sehr bescheidenen Verhältnissen. Zwar besaßen sie ein eigenes kleines Häuschen mit einem Garten, wo der Pflegepapa liebevoll für den Familienzuwachs ein Spielparadies errichtet hatte, und auch hier gab es keine großartigen Urlaubsreisen oder allgemein angesagten Markenkonsum. Dies war dem Jungen aber auch nicht so wichtig. Er mochte seine neuen Eltern auf Anhieb, ja, hatte sie sogar richtig lieb gewonnen und packte selbst im Haushalt mit an, wo er nur konnte. Vieles hatte er von seinem Ziehpapa Alex angenommen, der handwerklich sehr geschickt war und vieles an Reparaturen in ihrem kleinen Heim selbst bewerkstelligenen konnte. Stiefmama Elke war einfach nur lieb und ein Hausmütterchen, wie es im Buche steht. Und backen konnte sie, ….hmmm, ihr Apfelkuchen war der beste, den Noah jemals gegessen hatte. Oft hatte er ihr bei der Zubereitung geholfen und konnte ihn sogar schon fast selbst nachbacken. Er fühlte sich rundum wohl, bis, ja bis Alex vor einem Jahr einen Schlaganfall erlitt und seitdem nicht mehr arbeiten konnte. Er konnte kaum noch laufen und selbst das sprechen fiel ihm schwer. Noah war nicht entgangen, dass dadurch auch das Geld immer knapper wurde. Es reichte kaum noch, um das eine oder andere Teil nebenher zu ermöglichen, was nicht auf dem alltäglichen Einkaufszettel stand. Er beschloss daher, sein Taschengeld zu sparen um für seine geliebten Eltern ein kleines Geschenk zu Weihnachten kaufen zu können. Doch so sehr er sich auch anstrengte, viel blieb nie übrig am Monatsende. Schliesslich hatte er selbst doch auch seine kleineren Bedürfnisse. Ab und zu hatte er sich mal einen Kaugummi gekauft oder für seine Schwester ein Haargummi erworben, die diese über alles liebte. Vor einigen Wochen hatte er sogar an der Tankstelle nachgefragt, ob er helfen könne, Autos zu reinigen oder Regale einzuräumen. Er bekam jedoch immer nur schmunzelnd zur Antwort: „Warte, bis Du noch ein paar Jahre älter bist. Du darfst noch nicht arbeiten.“ Also zerplatzten alle seine Hoffnungen wieder und er machte sich langsam ernsthaft Gedanken, womit er denn wenigstens seinen Eltern zu Weihnachten eine kleine Freude bereiten konnte. Es würde ihm schon noch was einfallen, da war er sicher. Er öffnete seine Spardose, zählte das angesammelte Geld, es waren genau 6,25 €, und machte sich auf in die Stadt. Noah durchstöberte im Kaufhaus sämtliche Abteilungen, fand aber nichts, was ihm als angemessenes Geschenk für seine Eltern gefallen hätte, oder es war einfach zu teuer. Zunächst beobachtete er das bunte Treiben und die vielen Menschen, die ihre Einkäufe zum Schluss dann auch noch bei den vorhandenen Einpackservices verpacken ließen. Hübsch sahen die kleineren oder auch grösseren Päckchen aus. Ja, so etwa hatte er sich auch ein Geschenk für seine Eltern vorgestellt. So ein hübsches Kästchen mit einer bunten Schleife sollte es ein. Darin konnte er doch für beide etwas einpacken lassen. Aber, was sollte er da hineinlegen? Traurig und mit gesenktem Kopf verließ er das Kaufhaus wieder und als er sich abends schlafen legte, war er noch überwältigt von dem Gedanken an ein so hübsch eingepacktes buntes Kästchen. Da kam ihm ein Gedanke. Er hatte gelernt, daß arm sein nichts Schlimmes ist. Der innere Wert würde zählen, der gute Wille und der positive Gedanke. Nur ehrlich sollte er sein. Also kramte er in seinem Schrank nach einem hübschen Blatt Papier, setzte sich an seinen Schreibtisch, und schrieb in seiner schönsten Schrift die Worte darauf: „Liebe Mama, lieber Papa, Ihr seid immer so nett zu mir gewesen und ich hätte mich gerne mit einem schönen Geschenk für Eure Liebe bedankt, aber leider habe ich „nichts“. Ich will aber auch von Euch „nichts“ haben, weil ich auch nur so bei Euch glücklich bin. Für mich ist es wichtig, dass wir uns alle gegenseitig ganz doll lieb haben. Und ich habe Euch ganz doll lieb! Euer Noah“. Er faltete das Blatt sorgfältig zu einem Rechteck zusammen und schrieb auf die Aussenseite in Großbuchstaben „NICHTS“ . Mit diesem Blatt begab er sich am anderen Nachmittag dann wieder ins Kaufhaus und suchte sich in der Abteilung, in der es die schönen bunten Schachteln gab, ein sehr schönes Exemplar aus und stapfte damit zum Einpackservice. Geduldig wartete er in der langen Schlange darauf, dass er an die Reihe kam. Hinter ihm standen etwa noch sechs Personen, die ebenso wie er ihre Geschenke verpacken lassen wollten und eine zweite Verpackerin konnte gleichfalls auf eine lange Warteschlange hinblicken. Selbst am dritten oder vierten Verpackungsstandort ging es nicht schneller. Endlich war es so weit. Aufgeregt schaukelte er von einem Bein auf das andere. Er legte die Schachtel auf den Tresen und fragte die freundliche Dame: „Können Sie mir die Schachtel in schönes buntes Papier einpacken und mit einer Schleife umbinden?“ „Ja sicher, das kann ich“, sagte die freundliche Dame. „Aber was soll ich denn da hineinlegen? Wenn nichts drin ist, ist es doch kein Geschenk?“ „Oh ja“, meinte Noah und errötete ein wenig, weil ihm das recht peinlich war. Er kramte in seinem Anorack nach dem Zettel, den er vorbereitet hatte. „Hier bitte, würden Sie den bitte einpacken?“ „Ja gerne, mein Junge, aber darauf steht ja „NICHTS“. „Ja“, sagte Noah,“ ich habe ja leider auch nichts für meine Eltern. Mein Papa ist krank geworden und meine Mama kann auch nicht arbeiten. Ich bin noch zu jung und so kann ich ihnen nur einen kleinen Brief schreiben, in dem steht, dass ich sie ganz doll lieb habe.“ Die freundliche Packerin schluckte und wischte sich unauffällig eine Träne aus ihrem Gesicht. Eine ältere Dame, die hinter Noah wartete, hatte das Gespräch verfolgt und griff spontan nach einem silbernen Schutzengel, die man als Schlüsselanhänger verwenden kann, und die in Massen an einem runden Ständer auf dem Tresen hingen. Sie sprach den Jungen an und fragte ihn: „Schau mal, glaubst Du, Deine Mama würde sich hierüber ein wenig freuen? Das ist ein Schutzengel und wird sie auf all ihren Wegen begleiten.“ Verwundert blickte Noah in die warmen Augen der älteren Dame. „Ja sicher,“ rief er und sein Gesicht hellte sich auf. „Garantiert würde sie sich freuen. Aber das kann ich doch gar nicht annehmen.“ „Doch, Du kannst. Wenn ich es Dir doch anbiete…“ „Danke, danke, danke!“ Noah war fassungslos. Dann stupste ihn jemand auf die Schulter und fragte: „Und Dein Papa, meinst Du, er würde sich über dieses kleine Lederarmband freuen? Es ist zwar nicht viel, aber ich würde es Dir gerne überlassen. So etwas ist im Moment total „in“ und wird ihm sicher gefallen.“ Der junge Mann, der dem Jungen das Lederarmband reichte war ein äusserlich total cooler Typ und hielt Noah das Armband entgegen. Nun konnte auch Noah die Tränen nicht mehr verbergen. „Ich weiss gar nicht, was ich sagen soll! Jetzt muss ich ja meinen Brief neu schreiben, weil ja jetzt nicht mehr „NICHTS“ in dem Kästchen ist, und für meine Schwester kann ich nun auch noch ein paar Haargummis kaufen, so viel Geld habe ich noch, und dann bin ich auch schon fertig……….!“ Er wollte gar nicht mehr aufhören zu plappern und sich zu freuen, als eine junge Frau mit ihrer etwa 10-jährigen Tochter dem Jungen auch noch ein Päckchen bunter Haargummis in die offene Schachtel legte. Niemand in den langen Warteschlangen hatte rumgemosert, weil es so lange gedauert hatte, bis sie selbst an der Reihe waren. Jeder schien zufrieden und sehr gerührt zu sein, den kleinen Kerl mit seiner bunten Schachtel so glücklich zu sehen. „Darf ich sie jetzt zu machen?“ fragte die Packerin und Noah rief lauthals: „Jaaaa!!! Gerne!“ Er drehte sich nochmals zu allen Wartenden um und bölckte mehrfach: „Danke, und Euch allen ein frohes Weihnachtsfest!“ Noah konnte nun kaum erwarten, bis Heiligabend kam. Alex hatte mit Noahs Mutter ein kleines Weihnachtsbäumchen hübsch zurecht geschmückt, dass sie auf ihrem kleinen Grundstück hinter dem Haus vor einigen Jahren gepflanzt hatten. Das Wohnzimmer war feierlich bescheiden hergerichtet worden. Alles war sehr gemütlich. Sogar einige Geschenke lagen unter dem Baum. Stolz holte Noah seine Schachtel und stellte sie ebenfalls dazu. Nachdem sie zu Abend gegessen hatten, sollte es nun Bescherung geben. Noahs Augen leuchteten und seine Wangen glühten vor Aufregung. Zuerst übergab er seine Schachtel in die Hände der Mutter und umarmte zuerst sie und dann seinen Vater liebevoll. „Das ist für Euch, ich hoffe, Ihr freut Euch ein wenig. Ich habe Euch gleich noch gaaanz viel zu erzählen….“ Die Pflegeeltern öffneten das Päckchen und holten die netten kleinen Utensilien, die dort verpackt waren heraus. Als letztes lasen sie den Brief, der bei ihrem Sohn schon fast in Vergessenheit geraten war. Hemmungslos liessen auch sie nun ihren Tränen freien Lauf und umarmten ihren dankbaren kleinen grossen Noah, bis der sich fast von ihnen befreien musste, um überhaupt noch Luft zu bekommen. „Die Haargummis sind allerdings für Lena“, konnte er noch so eben sagen, und, “von wem sind den die anderen Päckchen?” „Stell Dir vor, Noah, es kam ein Bote vom Kaufhaus und hat dies alles hier für uns abgegeben. Wir sollen aber alles erst heute öffnen. Und dann war da noch eine Frau von der Gemeinde, die hat auch noch einige Pakete hier gelassen. Wir sind sprachlos. Wollen wir sie mal alle öffnen?“ Sie begannen die beschilderten Kartons und in buntes Weihnachtspapier eingepackten Überraschungen zu öffnen und trauten ihren Augen kaum. Das Kaufhaus hatte unter anderem einen Geschenkgutschein über einen Warenwert von 500 € beigelegt und in den anderen Paketen befanden sich Bekleidungsstücke für die Eltern, den Jungen und sogar für seine Schwester. Es sollte aber noch schöner kommen. Da war noch ein Umschlag von der Caritas. Hierin befand sich ein Umschulungsangebot einer Behindertenwerkstatt für Alex. Er hätte hier die Möglichkeit, eine Arbeit auszuführen, die seiner jetzigen körperlichen Verfassung entsprach. Es war alles wie – wie …im Märchen, in einem Weihnachtsmärchen! Es klingelte an der Türe. Wer konnte das denn nun noch sein, um diese Uhrzeit? Noah öffnete die Türe und vor ihm stand seine Schwester mit ihrer Pflegefamilie, die gekommen waren, um ein frohes Fest zu wünschen. Sie fielen sich alle gegenseitig in die Arme und trockneten sich gegenseitig manche Freudenträne, als auch sie die Geschehnisse erfuhren. Die freundliche Dame aus dem Kaufhaus, die mit dem Schutzengel, arbeitete bei der Caritas und war dem Jungen bis vor die Haustüre gefolgt, der nette coole Typ mit dem Lederarmband war ebenfalls Sozialarbeiter und kümmerte sich um bedürftige Familien, und die nette junge Frau mit dem Mädchen, das mit Noahs Schwester befreundet war, hatte der Mutter die traurigen Familienverhältnisse erklärt. Den Rest hatte die nette Packerin vom Verpackungsservice im Kaufhaus angeleiert. Sie alle gemeinsam hatten der Familie ein wunderschönes Weihnachtsfest beschert, das sie wohl alle nie mehr im Leben vergessen würden. Es wurde in der Tat ein wunderbares Fest. Das Fest aus „NICHTS“ . © Christiane Rühmann (Okt. 2010)