Über den Tod hinaus

Diese Geschichte erzählt von Helene S. und ihrem vor einem Jahr verstorbenen Mann Herbert. Beide waren sie im Jahr 1921 geboren. Sie wurde von ihrem Mann und ihren Bekannten kurz “Lenchen” genannt.

1984 zog ich mit meinem Mann in das 6-Familien-Haus ein, in dem auch Lenchen und Herbie wohnten - neben uns im Erdgeschoß.

In allen, unsere Etage betreffenden Aufgaben, wie z.B. Schnee schaufeln, Treppe wischen usw. haben wir uns abgewechselt.

Herbie arbeitete seinerzeit in einem Chemiekonzern und hatte einen hoch bezahlten Job. Lenchen, hoch intelligent, war leider nur das Heimchen am Herd und hatte kaum Gelegenheit, sich zu entfalten. Sie hatten zwei erwachsene Kinder etwa meines Alters.

Bodo und Franziska waren mit ihrem eigenen Leben viel zu beschäftigt, um zu merken, wie ihre Mutter unter der herrscherischen und degradanten Art ihres Vaters litt.

Oft traf ich Lenchen weinend im Waschkeller an. Dann schimpfte sie immer und zwar so ausgefallen, dass überhaupt nicht zu ihrer feinen Art passte. Sie war dann manchmal so wütend auf ihn, dass sie sogar verbal ausfallend werden konnte: “Arschloch, Idiot, Blödmann, der hat sie ja nicht mehr alle…..”, halt eben das Übliche ! …..grins

Sie sprach ein außerordentlich reines Hochdeutsch. Bei ihrer Aussprache wurden nie Silben oder Buchstaben verschluckt, wie es bei uns Rheinländern oftmals üblich ist. Sie trat allgemein auf, wie eine Frau von .. und zu.. .

Ihre Aussprache passte perfekt zu ihrem Outfit. Sie trug stets Edelteile, also solche, die ein mehrfaches von dem kosteten, was man in Kaufhäusern so erwerben konnte. Feine und edelste Kombinationen aus Edelzwirn gehörten einfach zu ihr, wie das Meer zum Strand.

Herbie und Lenchen fuhren in den 80-er und 90-ern zwei bis dreimal jährlich in Urlaub.

Klasse…! Jedes Jahr an denselben Ort????

Das wäre mir auch in die Krone geschlagen.

Oft erzählte Lenchen mir, dass sie so gerne mal mit einem Flugzeug in den Urlaub geflogen wäre; aber Herbie sei strikt dagegen und will immer wieder nach Bad Orb.

Klar! Herbie war ja auch nach seiner Pensionierung noch Manager eines Handballvereins und fast jedes Wochenende irgendwo in Deutschland unterwegs. Lenchen blieb zu Hause und passte auf die Möbel auf.

Sie tat uns oft sehr leid.

Als Herbie vor einem Jahr verstarb, habe ich mich - ich war in der Zwischenzeit auch bereits verwitwet- ein wenig um Lenchen gekümmert. Sie war total eingefallen - am ganzen Körper. Sie sprach nur noch sehr leise, konnte kaum noch sehen, weil sich ihre Kinder gegen eine Augen-OP in ihrem Alter entschieden hatten. Immerhin war sie bereits 83 Jahre. Sie meinten, dass eine Narkose zu riskant sei.
Vorsichtig schlug ich die “Lasermethode” vor, wo man nach drei Stunden wieder sehend zu Hause ist; aber auch davon hielten Bodo und Franzi absolut nichts, warum auch immer.

Und so schwand Lenchens Lebensqualität von Woche zu Woche.

Bevor ich zum einkaufen ging, klingelte ich immer bei ihr, um ihr bei Bedarf etwas mitzubringen.

Abends haben wir manchmal eine Flasche Sekt geöffnet und sie hat mir aus ihrem -nicht allzu aufregenden- Leben erzählt. Manchmal huschte dann ein Lächeln über ihr Gesicht. Auch habe ich sie verschiedene Male zu “Über-Land-Fahrten” eingeladen, bei denen sie sich dann stets mit Kaffee und Kuchen im “Cafe Wild” revanchierte. Das brachte uns beiden viel Spaß. Im Anschluß bot ich ihr dann einmal an, Herbies Grab noch zu besuchen, damit sie mal Zwiesprache mit ihm halten konnte. Das lehnte sie jedoch dankend ab, weil sie ja überhaupt nicht wisse, wie man zu seinem Grab käme. Sie sähe ja schließlich nichts mehr. Dann wurde sie traurig.

Also fuhren wir ziemlich stumm wieder nach Hause. Sie stützend, betraten wir still wieder ihre leere Wohnung.
Aber ich spürte auch, dass sie sich hier wohl fühlte und hier kannte sie auch jeden Quadratzentimeter.

Dann kam aber die Zeit, dass sie sich nicht mehr einwandfrei alleine versorgen konnte. Sie ließ das Essen anbrennen, stürzte so schlimm, dass sie ins Krankenhaus mußte, verlegte viele Dinge usw.

Da ihre Kinder -fast wie in jeder Familie- aus beruflichen Gründen nicht in der Lage waren, sie rund um die Uhr einwandfrei zu betreuen, machten sie sich auf, um einen Heimplatz für sie zu finden.

Die Gewißheit, dass sie nicht mehr allein bleiben konnte, ließ sie noch mehr zusammenfallen. Insgeheim hatte sie gehofft, dass sie zu einem der beiden ziehen konnte.

Seit etwa einem Jahr lebte sie nun in einem Altersheim und freute sich jedes Mal wie ein kleines Kind, wenn ich sie besuchen kam. Nun ja - ich habe ja auch die Zeit dazu gehabt. Dann erzählte sie wieder aus alten schönen Zeiten. Sie sehnte sich nach ihrem Herbie, der sie über 50 Jahre sehr egoistisch behandelt hatte. Er solle sie doch endlich zu sich holen, hat sie oft geäußert. Selbst jetzt, noch nach seinem Tod, hatte er sie voll unter seinen Fittichen.

Sie wartete ernsthaft auf ihr Ableben. Einmal hatte sie in der zurückliegenden Nacht davon geträumt, dass sie Hand in Hand mit ihrer Freundin auf dem Weg war, um Herbie und Gott im Himmel zu treffen. Leider hatten sie sich verlaufen und fanden den richtigen Weg nicht. Daraufhin hätten sie sich umgedreht und seien zurück ins Altersheim gegangen. Ihre Freundin war dort bereits auch schon zwei Wochen vorher verstorben und bereits beerdigt.

Als ich mir ihren Traum angehört hatte und auch ihr Vorhaben, gemeinsam mit der Freundin zu Herbie in den Himmel zu gehen, erkannte ich ihren starken Willen, sterben zu wollen.

Zum Abschied sagte sie noch zu mir: “Es ist schön, Christiane, dass ich Dich noch einmal gesehen habe und vielen Dank für die vielen schönen Stunden, die Du mir noch geschenkt hast. Du bist fast die einzige Nachbarin, die mich besucht, obwohl ich mit den anderen mehr als 30 Jahre zusammen wohnte. Danke!”

Ich spürte, dass ich ihr wohl zum letzten Mal ihre knochigen Hände gestreichelt hatte ……

Alles Gute Lenchen ………………….!

(c) Christiane Rühmann