Zu meiner Schulzeit, von 1960 bis 1968 gab es noch einen Eintrag auf dem Stundenplan "Bücherei".
Das bedeutete, Klassenbeschäftigung, während man sich gleichzeitig oder vielmehr parallel in dem Schul-Buch-Schuppen Bücher aussuchen und ggfs. ausleihen konnte.
Die Klassenlehrer machten sich während dieser Zeit dann meistens auch vom Acker und gaben vor, "Aufsicht" zu schieben, damit von den Heiligtümern keines gestohlen wurde und ihjr persönlicher Heiligenschein nicht verloren ging.
Also blieben die meisten Klassen während dieser Zeit unbeaufsichtigt und wurden nur mit irgendwelchen Aufgaben beschäftigt.
Grinsend und gleichzeitig triumpfhierend haben wir natürlich diese Zeiten genutzt, um irgendwelchen Blödsinn zu verzapfen. Meistens stand auch immer einer von uns auf dem Flur Schmiere, um zu melden, falls sich eine aufgeballte Qualle als Autoritätsperson dem Klassenraum näherte.
Sofort waren wir alle brav und arbeiteten an den uns auferlegten Aufgaben. Damals war es auch noch nicht so wie heute, dass ein Schuljahr zwei oder drei Klassen besetzten, sondern es gab in unserem kleinen Dorf nur vier Klassen, bestehend aus acht Schuljahren.
Dementsprechend wenige Lehrer gab es dadurch auch. Alles war irgendwie sehr familiär, zumal die Pauker selbst auch Kinder hatten, die teilweise auf unserer Schule unterrichtet wurden. Das gestaltete sich natürlich nicht immer sehr einfach, wegen Bevorteilung und so.....
Na ja, war eher selten, da die Paukkids ja auch nur beim sch... die Knie krumm machten, und um zu uns übrigen zu gehören, machten sie auch fast jeden Blödsinn mit.
Mal haben wir die Türklinken mit Gummiarabikum eingeschmiert, mal haben wir die dünnspahnigen Sitzflächen der Lehrerstühle von unten mit einem Gemisch aus Löwensenf und scharfem Meerrettich eingestrichen und amüsierten uns später, nachdem diese Masse die Holzsitzfläche durchzogen hatte, darüber, dass sich die Obrigkeiten dauernd am Mors kratzten und sichtlich unruhiger wurden.
Ein Anderesmal kicherten wir darüber, dass die von Spucke durchtränkten Papierkügelchen, die wir mittels Lineal an die Decke über dem Lehrerpult katapultiert hatten, nach und nach trockneten und Klümpchen für Klümpchen in den Dunstkreis des Paukers fielen. Nee, an Ideen hat es uns selten gefehlt, ähnlich wie dem Schüler Nietnagel aus den altbekannten Pauker-Filmen.
Auch damals gab es schon "Sitzenbleiber", sogar welche, die zwei Ehrenrunden drehen durften. Das Problem war nur, dass diese dann altersmässig zwei Jahre den anderen Klassenkameraden voraus waren, und genau das machte sich auch in ihrer körperlichen Entwicklung bemerkbar.
Besonders trat das Problem bei den Mädels auf. Ich denke das kennt Ihr alle.
Der Busen beginnt zu wachsen, Körpergeruch tritt ein und ab und zu sah man auch einen roten Fleck auf der Sitzfläche und nicht zuletzt auch an der rückwärtigen Bekleidung der armen Person, wenn so ein pupertierendes Mädel aufgestanden war.
Die Lehrerschaft hatte mit diesen Eigenschaften kein Problem, aber die Mitschüler. Kinder und Jugendliche sind halt grausam und immer darauf aus, andere zu verletzen und zu diskriminieren.
So passierte es auch Dagmar immer wieder, dass sie von den männlichen pupertierenden Ungeheuern zur Verzweiflung getrieben wurde. Sie haben sie so lange gehänselt, bis sie anfing zu weinen. Ich glaube, heute nennt man das "Mobbing".
Dagmar war zweimal sitzengeblieben. Oft tat sie mir sehr leid, aber ich habe auch nichts unternommen, um die Horde davon abzuhalten, ihre Spässe mit ihr zu treiben.
Ich schäme mich heute dafür.
So kam es an einem Morgen zur "Bücherstunde" dazu, dass wiedermal keine Aufsicht in unserem Klassenraum war. Diese Tatsache hatte Robert dazu genutzt, um das Schulgelände zu verlassen, über die Strasse in den kleinen Dorfladen zu laufen, der von einer sehr geschäftstüchtigen Dame namens "Hildegard" betrieben wurde, um dort ein Mobbingobjekt zu kaufen. Bei Hildegard gab es alles, was Kinder- und Jugendherzen begehrten. Lose Bonbons aus dem Glas, Cola, Schulutensilien, die BRAVO und auch Scherzartikel, wie Furzkissen und Stinkbomben. Robert hatte sich heute für zwei Stinkbomben entschlossen.
Nachdem er flinkst wieder auf das Schulgelände und in den Klassenraum geeilt war, warf er hinter die eifrig lernende schüchterne Dagmar, eine dieser Stinkbomben. Sofort verbreitete sich der fürchterliche Gestank in der gesamten Klasse. Es stank so schlimm, dass wir alle gröhlend den Unterrichtsraum verliessen und uns auf dem Flur halb totlachten und teilweise sogar ihren Würgereiz nicht unterbinden konnten.
Nur die arme Dagmar blieb auf ihrem mittlerweile viel zu klein gewordenen Stuhl sitzen und brach lauthals in Tränen aus.
Mit donnernden Schritten näherte sich unser Pauker dem Klassenraum und wollte wissen, was los sei. Auch ihm war mittlerweile der Gestank nicht entgangen, also wollte er wissen: "Wer war das?"
Alle schwiegen - wie in der heutigen Fernsehwerbung mit der Versicherung - aus Solidarität und zuckten mit den Schultern. Also begab er sich in die Klasse zu Dagmar und versuchte zunächst einmal, sie zu beruhigen. Er nahm sie sanft beim Arm und forderte sie auf, ihm ins Lehrerzimmer zu folgen, nachdem er zuvor noch eilends die Fensterflügel bis zum Anschlag geöffnet hatte. "Wir sprechen uns noch!", meinte er, als er mit Dagmar an uns vorbeiging. Und nun.....?
Plötzlich war uns allen nicht mehr zum lachen zumute und das schlechte Gewissen plagte die meisten von uns. Wahrscheinlich war es nur die Angst vor Strafe oder vor so etwas wie einem "blauen Brief" oder einem autoritären Besuch zu Hause.
Robert bemerkte die allgemeine Haltung und meinte nur: "Lasst mich jetzt nur nicht im Stich, ihr wolltet doch auch, das ich das mache."
Alle schwiegen.
Nach einer Weile kam der Schulleiter zu unserer Gruppe, schnappte sich Robert am Ohr, drehte dieses, bis er seinen Kopf wendete und entschwand mit ihm aus der Klasse.
Wir hörten nur noch: "So, mein Freund......., das hat ein Nachspiel!"
Auweiahh, das konnte ja noch heiter werden.
Zur Strafe musste Robert vier Wochen lang die Tafel wischen, die Papierkörbe leeren, die Klasse fegen und hatte Pausenhof-Verbot.
Darüberhinaus musste er zwanzig DIN A 4 - Seiten Strafarbeit schreiben.
Wir übrigen kamen mit einer schroffen Ermahnung davon, was uns jedoch alle nachdenklich gemacht hatte und erkennen lies, dass man niemals mit einer Person so umgehen darf.
Wir hatten uns später ALLE, auch Robert, bei Dagmar entschuldigt und sie sogar in unsere Gemeinschaft aufgenommen. Sie wurde nach diesem Vorfall lockerer und pflegte sich deutlich besser.
Oft muss halt etwas Grausames geschehen, um sich gegenseitig mehr Verständnis entgegen zu bringen und aus unseren Fehlern zu lernen.
Niemals wieder habe ich mich dazu hinreissen lassen, gegen jemand in solcher Art und Weise Partei zu beziehen - im Gegenteil, ich bekenne mich heute zu den Schwächeren und stehe voll und ganz vor Denjenigen, die sich alleine nicht wehren können.
Meine Taten machen mich nicht stolz - haben jedoch zu einer Erkenntnis geführt.
Entschuldige, Dagmar........
c) Christiane Rühmann
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