Adele war mittlerweile 82 Jahre alt geworden und begann, ein wenig dement zu werden. Schlimm war das noch nicht, aber es machte sich mehr und mehr bemerkbar, weil sie Dinge begehrte, auf die sie bisher noch nie Wert gelegt hatte.
Sie hatte keine Verwandtschaft, keine Kinder und niemanden mehr, der sie besuchte. So verbrachte sie ihre Zeit damit, in Zeitschriften und Katalogen zu stöbern.
Unter den anderen Bewohnern gab es eine Menge Dementer, die wirklich nicht mehr wussten, was sie taten. Sie lebten in ihrer eigenen Welt. Bei ihnen engagierte sich Adele häufig, indem sie ihnen etwas vorlas oder aus ihrer Jugendzeit vorschwärmte, als sie noch von ihrem, leider viel zu früh verstorbenen Kurt, umschwärmt wurde.
Oft kramte sie dann ihre alte Bilderkiste hervor und zeigte Fotos aus jenen Ländern, die sie mit ihrem Mann bereist hatte.
Sie seufzte bei ihren Erzählungen zwischendurch, und nicht zu selten rann ihr eine Träne über ihr faltig gewordenes, dennoch liebenswertes Gesicht.
In solchen Momenten, in denen sie mit zittrig gewordenen, knöchernen Händen, die Beweise der Vergangenheit festhielt, dachte sie an Vieles, was sie gerne noch erlebt oder gelebt hätte.
Sie war sogar recht kreativ und veranstaltete mit anderen Mitbewohnern Spielnachmittage oder lud zu einer Modenschau ein, zu der sie sämtliche Kleidungsstücke, die sie besaß, immer wieder miteinander neu kombinierte. Viele der Damen steuerten hierzu auch aus ihren Kleiderschränken Röcke, Kleider, Hüte, Schals Taschen oder Ähnliches hinzu. Das bereitete allen immer sehr viel Freude.
Gerne hätte Adele sich nochmal ein neues schickes Kleid geleistet, aber ihr Wohnplatz nahm den überwiegenden Teil ihrer Rente in Anspruch, sogar noch einen sehr großen Teil derer, ihres geliebten Kurt.
Adele seufzte erneut, zog die Stirn in Falten und überlegte, wie sie es anstellen könnte, von ihrem schmalen Budget etwas zu diesem Zweck zurückzulegen. In der Kirche hatte sie bereits zu Gott gesprochen und ihn gebeten, sie ein wenig zu unterstützen.
Als nichts geschah, beschloss sie, einen Brief an Gott zu schreiben.
Sie fingerte aus ihrer Kommode einen mittlerweile vergilbten Schreibblock hervor, setzte sich an den kleinen Tisch in ihrem karg eingerichteten Zimmer und nahm ihren wertvollen Füllfederhalter zur Hand.
Wie ein kleines Schulmädchen saß sie dort, starrte gegen die Zimmerdecke und hatte, um ihren Gedanken auf die Sprünge zu helfen, den Kopf ihres Federhalters in den Mundwinkel gesteckt.
Dann begann sie einfach zu schreiben, und ihren Gedanken freien Lauf zu lassen:
„Lieber Gott,
ich bin es, die Adele Schneider. Du kennst mich doch aus der Kirche. Ich bin eine treue Besucherin Deiner Gottesdienste, und zwischendurch komme ich auch manchmal, um eine Kerze anzuzünden.
Nun brauche ich mal Deine Hilfe.
Kannst Du mir nicht irgendwie zu 200,00 € verhelfen, um mir mein lang ersehntes neues Kleid leisten zu können? Das sollte doch möglich sein. Ich habe nie etwas Unrechtes getan und bin immer gut zu meinen Mitbewohnern.
Ich denke, da ich ja auch nicht mehr die Jüngste bin, wird das so ziemlich mein letzter Wunsch sein, den ich habe.
Ich wüsste nicht, wem ich sonst diesen Wunsch äußern könnte, weil ich ja keine Verwandten habe.
Wirst Du mir helfen?
Deine treue Adele Schneider“
Adele holte aus der Kommode einen ebenso vergilbten Briefumschlag hervor und beschriftete ihn auf der Vorderseite mit folgenden Worten:
An den lieben Gott
Auf die Rückseite schrieb sie die Anschrift ihres Wohnstiftes mit der Zimmernummer, die sie doppelt unterstrich.
Am Mittag fing sie den Postboten ab, der –wie früher- noch mit seinem Fahrrad die Post ausfuhr.
„Guter Mann, würden Sie wohl so freundlich sein, und den für mich mitnehmen, auf der Post frankieren und dann einwerfen? Hier, ich gebe ihnen sogar 3,00 €, damit der Brief auch ja ausreichend frankiert ist. Wissen sie, ich komme doch nicht mehr ins Dorf.“
Adele schaute den Postboten aus ihren braunen, liebenswürdigen Augen fragend und bittend an, dass dem jungen Mann nichts anderes übrig blieb, als den Brief entgegen zu nehmen. Sie zählte ihm sorgfältig 3,00 € aus ihrer angespeckten Geldbörse, in die Hand.
„Machen Sie sich keine Sorgen“, meinte der junge Mann, „ich werde das erledigen.“
Überglücklich winkte Adele ihm noch nach und begab sich zurück auf ihre Station.
Am Ende seines Dienstes fiel dem Briefträger der Brief der alten Dame ein. Er hatte ihr doch versprochen, ihn zu frankieren und weiterzuleiten. Und was er mal versprochen hatte wurde auch von ihm gehalten. Ordnung muss sein.
Er zog das vergilbte Couvert aus seiner Jackentasche und wollte gerade eine Briefmarke aufkleben, als ihm auffiel, an wen der Brief adressiert war.
Ratlosigkeit war nun auf seinem Gesicht zu lesen. Er konnte den Brief doch nicht frankieren und dann in einen Briefkasten werfen.
Er überlegte eine Weile, und beschloss dann, ihn auf dem Finanzamt, in der Stadt, in der er lebte, abzugeben.
Er wendete das Couvert, las als Absender „Adele Schneider“ und gab ihn in der entsprechenden Abteilung mit den Buchstaben „Sch…..“ ab, und verschwand schleunigst wieder, bevor er von einem Beamten angesprochen werden konnte.
Der Beamte, auf dessen Schreibtisch Adeles Brief gelandet war, nahm den Brief, schlitzte das Kopfende mit seinem verschnörkelten Brieföffner auf, ohne auf das zu achten, was auf dem Umschlag stand. Er zog den sorgfältig gefalteten Brief heraus und begann zu lesen:
„Lieber Gott,
ich bin es, die Adele Schneider………
Auf einmal begann er zu schluchzen. Seine Kollegen wollten wissen, was denn geschehen sei, und so las er ihnen den Brief vor.
Als er am Ende aufsah, bemerkte er, dass seine Kollegen und Kolleginnen alle merkwürdig gerührt waren, und ebenfalls mit den Tränen zu kämpfen hatten. Die Kollegen beratschlagten kurz und entschlossen sich, für Adele Schneider zu sammeln, weil sie ihr Schicksal sehr berührt hatte.
Durch jede Abteilung wurde der Brief gereicht. Man sammelte für die alte Dame und bekam zum Schluss eine Summe von 160,00 € zusammen.
Die drei Fünfziger und einen Zehner schlug man in Aluminiumfolie ein, steckte sie in einen Dienstumschlag des Finanzamtes, schrieb Adeles Adresse auf die Vorderseite und vermerkte auf einen Dienstbogen, ohne jedes weitere Wort:
„Viel Spaß beim einkaufen, DER LIEBE GOTT“
Als Adele fünf Tage später durch den Postboten, den sie täglich abgefangen hatte, ihren Brief ausgehändigt bekam, war sie überaus beglückt und öffnete mit zittrigen Händen das sehnsüchtig erwartete Couvert.
Sie las auf dem amtlichen Schriftbogen:
„Viel Spaß beim einkaufen, DER LIEBE GOTT“, zählte sogleich das Geld und war hoch erfreut, aber auch enttäuscht zugleich.
‚War es so schlecht um die Finanzen im Himmel bestellt‘, überlegte sie sich und beschloss, dem lieben Gott zu antworten.
Wieder setzte sie sich an ihren kleinen Tisch und schrieb zur Antwort nachfolgende Zeilen:
„Lieber Gott, ……..
Adele gab abermals ihre Nachricht dem freundlichen Postboten mit, der ihn auch diesmal wieder in derselben Abteilung beim Finanzamt abgab.
Derselbe Beamte öffnete Adeles Brief und fing lauthals an zu lachen.
Auf Befragen seiner Kollegen, las er auch diesmal wieder vor:
„Lieber Gott,
ich bin es wieder – die Adele.
Ich danke Dir von ganzem Herzen, dass Du mir geholfen hast. Für das Geld werde ich schon was Passendes finden, da bin ich sicher.
Aber, solltest Du mir noch einmal etwas Geld zukommen lassen wollen, dann mache das doch bitte nicht wieder über das Finanzamt.
Stell Dir vor, diese Armleuchter haben gleich 40,00 € für sich einbehalten……
Deine Adele“
© Christiane Rühmann
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