Klirr...., schepper....., es war schon wieder passiert! Nein, das kann doch nicht wahr sein! Warum kann ich mich nicht zusammenreißen? Ich weiß doch, dass ich nicht mehr in der Lage bin, mit nur einer Hand einen Teller oder gar eine Tasse festzuhalten. Und immer wieder verfalle ich in die alte Gewohnheit zurück, glaube, dass alles noch so ist, wie vor der widerlichen Erkrankung.
Überall verstreut lagen nun die Scherben - und ich kann mich doch nicht mehr bücken!
Ich ärgerte mich unglaublich. Das war auch noch meine Lieblingstasse! Hhmm, der Krebs ist es nicht. Es sind die Nebenwirkungen und Begleiterscheinungen der Chemotherapien und der Medikamente, die meinen Körper so marode machen.
Ob ich auf Dauer damit leben kann?
Ich versinke in Gedanken.
Warum denke ich jetzt so intensiv darüber nach? Bisher hat es doch auch gegangen. Bloß, weil mir diese blöde Tasse auf dem Boden zerbrochen ist? Na gut, zugegebenermaßen 'wieder'. Aber das passiert anderen Menschen doch auch. Von denen macht sich keiner Gedanken, warum es jetzt gescheppert hat. Das muss ich auch nicht. Vielleicht bin ich auch zu streng mit mir geworden. Ich beobachte jede Veränderung an meinem Körper und bin mir doch in Wirklichkeit mit mir einig, dass ich das, was da passiert ist, annehmen und nicht wegstoßen muss. Es ist halt so - und Punkt! Schließlich lebe ich ja noch und das ist doch alles, was zählt oder?
Es klingelt an der Haustür. Ich betätige den Türöffner und bin gespannt, wer mich aufsuchen wird. Ich höre jemanden stöhnend die Treppe herauf stapsen. Haha, ja, nicht so einfach, denn ich wohne in der dritten Etage!
Das ist etwas, was mir wiederum Freude macht. Oft habe ich das Gefühl, dass ich die Stufen wie eine Elfe überfliege. Zwanzig bis dreißig Jahre jüngere Personen haben da weitaus weniger Puste als ich und sollten sich eigentlich schämen, sich von einem so prähistorischem Ungeheuer wie mir, abhängen zu lassen.
"Treppenjogging" nenne ich das. Es ist der einzige sportliche Ausgleich, den ich momentan habe. Mein Fahrrad wurde von einer rücksichtslosen Autofahrerin im Fahrradständer angefahren und hat seitdem eine ansehnliche Acht im Vorderrad.
Endlich kann ich den Besucher auf dem letzten Treppenabsatz erkennen. Es ist der Postbote, der mir einen Einschreiben bringt und dazu meine Unterschrift benötigt.
'Armer Kerl', denke ich und begrüße ihn mit einem freundlichen "Guten Morgen", was er pustend erwidert.
"Frisch geworden draußen", bemerkte er und hielt mir zum Unterzeichnen seinen Kugelschreiber entgegen.
"Ja, wir sollen einen langen und heftigen Winter bekommen", entgegnete ich, während ich schwungvoll meine Signatur auf das Formular setze.
Smalltalk - bis er mir dann von seinem jungen Kollegen erzählte, der seit dem vergangenen Winter erwerbsunfähig geworden ist, weil ihm die Finger erfroren sind. Er sei zu dem Zeitpunkt gerade erst zum drittenmal Papa geworden. Nun sei alles vorbei und er werde wohl nicht mehr arbeiten können.
Ich hörte ihm schockiert zu und wollte wissen, wie das denn passieren konnte.
"Um die Briefe leichter aus unserer Transporttasche nehmen und in die Briefkästen verteilen zu können, benutzen wir Handschuhe, an denen die Fingerspitzen entfernt sind. Der Nachteil ist aber halt, dass die Fingerspitzen frieren, und im Fall des Kollegen, abfrieren. Mittlerweile hat man ihm an der rechten Hand sogar zwei Finger amputieren müssen."
"Das tut mir unglaublich leid, echt. Bekommt er denn wenigstens Zuwendung von der Deutschen Post, ich meine Unterstützung für sich und seine Familie? Rente oder so was?"
"Das kann ich nicht wirklich sagen. Ich weiß nur, dass er die Post darauf verklagt hat. "Berufsrisiko" nennen die das. Ich fahre ihn nächste Woche nochmal wieder besuchen. Meine Frau hat Kinderkleidung von unseren Zwillingen aussortiert, die lasse ich der jungen Familie gerne zukommen. Gerade mal 29 ist er und wollte sich wegen seiner Berufsunfähigkeit sogar schon das Leben nehmen. Ist das nicht schrecklich?"
Ja, das war in der Tat schrecklich. Ich verabschiedete mich freundlich von dem netten Zusteller und rief ihm noch nach, er möge doch auf sich aufpassen, dass ihm nicht das gleiche wiederfährt, schließlich gäbe es nicht sehr viele so nette Briefträger, wie er einer sei. Wenn ich ihn vor Weihnachten nochmal sehen würde, bekäme er von mir ein paar Taschenwärmer.....
Ohne den Kopf zu wenden, stapste er die Treppe wieder hinunter und hob zum Gruß noch seine Hand.
Ich dachte eine Weile über seine Erzählung nach und kam zu der Erkenntnis, dass die bescheuerte zerbrochene Tasse doch wohl das kleinste Übel ist.....
(c) Christiane Rühmann
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