Heimat ist, wo PÜTT ist

Er hatte genug von den angestaubten grauen Fassaden der Siedlung. Das ganze Stadtviertel lebte vom Bergbau. Siggi, wie er hier von allen genannt wurde, lebte immer noch in dem Dachgeschoßzimmer mit Schräge und der primitiv zu handhabenden Dachluke. Er lag auf seinem Bett und starrte gegen die Decke. Eigentlich müsste er mal neu tapezieren, aber er hatte es satt, hier länger zu wohnen. Seit seiner Geburt bewohnte er bereits dieses Zimmer. Seine Schwester hatte ihres nebenan und sein Bruder gegenüber. Alles war so grau und trist. In jedem Zimmer hing ein Bildnis der „Heiligen Barbara“, der Schutzpatronin der Bergleute. Er kannte noch nicht einmal wirklich ihre Geschichte und was sie mit den Bergleuten verband, er wusste nur, dass sie sie, als der Berg sich öffnete, beschützt haben soll, als sie selbst auf der Flucht vor ihrem fürchterlichen Vater war. Und seither, so sagt es die Heiligenerzählung, beschützt sie alle, die den Berg betreten können und sich unter Tage aufhalten. Siggi dachte an seinen Vater, der an seiner Staublunge elendig verstorben war. Es war wohl das Schicksal vieler Bergleute. Er war Steiger und nur darauf bedacht, seine Familie glücklich zu machen. Dass er sie eigentlich unglücklich machte, war ihm wohl niemals in den Sinn gekommen, denn schließlich hatte er doch für alles gesorgt. Trotz Unterbezahlung hatte er es geschafft, seiner Familie eine Doppelhaushälfte zu ermöglichen. Die andere Hälfte bewohnte dessen Bruder Atze mit seiner Familie. Es gab kaum Platz für Spiele – aber es gab viel Platz für viel Herz! Das Wochenende verbrachten sie stets in ihrem kleinen Schrebergarten, gleich neben den Bahnschienen. Er war wie eine Oase, in der sie sich erholen konnten. Hier vergaßen sie ihre ewige Angst vor Grubenunglücken und die Geldnot wegen der ständigen Arzt- und Arzneirechnungen. Nun ja, es war doch irgendwie schön, wenn sie gemeinsam dort hin marschierten und Mutter Apfelkuchen oder „Muschipizza“, wie Onkel Atze frecherweise die Pflaumenplatte nannte, gebacken und alles in dem Bollerwagen verstaute, auf dem auch kurzfristig eine Kiste Bier parkte, in ihre Oase zogen. Die vorbeifahrenden Güterzüge nahm niemand mehr so wirklich wahr. Sie gehörten einfach zu aller Tagesablauf dazu. Man sprach halt etwas lauter, wenn einer vorüber donnerte. Auch sonst war es ja gar nicht so übel hier. Gleich um die Ecke befand sich ein Kiosk, wo es außer den Zigaretten, Zeitungen und einer Flasche Bier auch noch immer ein nettes Pläuschken gab. Daneben befand sich ein altes Ziegelgebäude, hinter dessen poröser Fassade Siggi ein Geheimversteck hatte. Hier hatte er Briefe versteckt, die dem Leser seine heimliche Liebe zu Giesela preisgeben würden. Auch einen Wimpel hatte er dort deponiert, von seinem Verein, dem FC Schalke 04. Zu Hause konnte er ihn nicht aufbewahren, weil sämtliche Freunde und seine Familie Fans des VFL und der BORUSSIA waren. Er war nicht stark genug, zu seinem Verein zu stehen, aber heimlich – heimlich betete er seine Favoriten an. Ja, und nun, nach Vaters Krebstod war er das Familienoberhaupt und hatte dafür zu sorgen, dass Geld in die Kasse floss. Aber er war nun mal kein Bergmann, wie sein jüngerer Bruder oder sein Onkel. Selbst seine Schwester arbeitete auf der Zeche, allerdings in der Verwaltung. Siggi war anders. Er suchte neue Herausforderungen, wollte die Welt sehen, seinen geistigen Horizont erweitern und mehr Geld verdienen, als er es hier auf´m Pütt könne. Er wollte einfach raus aus dem Ruhrpott. Daher hatte er sich bei einer Baufirma beworben, die in Japan nach europäischem Muster Wohnsiedlungen bauten. Er hatte nach Abschluss der Schule Maurer gelernt und war mittlerweile Maurermeister, also für die Baufirma bestens geeignet. Das Vorhaben sollte zwei Jahre dauern und würde ihm außergewöhnlich viel Geld bringen, das er natürlich seiner Familie zu Gute kommen lassen würde. Was hatte er hier denn auch für eine Zukunft? Er musste es nur noch irgendwie seiner Familie beibringen. Nach seiner Offenbarung bei einer Familiensitzung, zeigten jedoch alle mehr Verständnis für seine Entscheidung, als er angenommen hatte. Das erleichterte ihm den Abschied natürlich ungemein. Er packte seine Sachen und folgte dem fast unwiderstehlichen Angebot. Die Zeit verging und sie hatten eine Menge Häuser in Koshido erbaut. Er befand sich bereits seit etwas mehr als einem Jahr hier. Die Baufirma hatte gute Arbeit geleistet und aus diesem Grund weitere Aufträge in Japan erhalten. Er erhielt bei bereits allerbester Bezahlung das Angebot, weitere zwei Jahre hier zu verbringen und den Aufbau voran zu treiben. Sein Lohn sollte weiter aufgestockt werden und darüber hinaus konnte er jedes Vierteljahr einmal nach Hause fliegen. Er stand vor einer neuen Entscheidung. Seine Gedanken kreisten und waren im Moment genau so verstaubt, wie die Fenster in der Umgebung der alten Zeche in seiner Heimat. Je mehr er nachdachte, umso klarer wurde es in seinem Kopf und sein Entschluss immer deutlicher. All das, vor dem er geflüchtet war, wurde zu einer Schlinge, die ihm den Hals zuschnürten. Ihn plagte Heimweh! Ihn, den Revolutionär, den Ausreißer, der vor der Realität davon gelaufen war! Wie mochte sich seine Mutter wohl fühlen, ohne ihn? Was war mit seiner kleinen Schwester, dem Bruder und seinen Kumpels? Was war sein Leben hier überhaupt ohne seinen Pütt? Er war in dem einen Jahr, seitdem er hier war, noch nicht zu Hause gewesen. Briefe, die sie wechselten, brauchten sehr lange und immer beteuerten ihm alle, dass es ihnen gut gehe, zu Hause. Auf einmal liefen Tränen ohne Aufhalt über seine im Lauf der Zeit fahl gewordenen Wangen. Er ließ ihnen ihren Lauf und begann sogar, laut zu schluchzen. Genau da fasste er den Entschluss: Er musste zurück , zurück nach Bottrop in die Zechensiedlung. Er sehnte sich plötzlich nach den Reibereien, die es von Zeit zu Zeit gab, nach den Frühschoppen im Revier, dem Getratsche seiner Familie, Freunden und Nachbarn. Die Fremde war doch nichts für ihn, das wusste er nun. Sie war einfach nicht seine Welt…. Mit einer Notlüge familiärer Art, entließ die Gesellschaft ihn schließlich nach seinem Entlassungsersuchen, vorzeitig aus dem Vertrag, wenn sie ihn auch nicht gerne gehen lassen wollten. Er hatte sogar noch eine Sonderzahlung zu erwarten, weil er mit großem Einsatz für das Unternehmen tätig gewesen war. Erst, als er knapp eine Woche später in der Straßenbahn zur Zeche saß, hellte sich sein Gesicht auf. Alles sah noch genau so aus, wie vor einem Jahr. Niemand wusste von seiner Rückkehr, er wollte alle überraschen. Um selbst erst einmal ‚anzukommen‘, war er drei Stationen vor zu Hause ausgestiegen. Er schulterte seinen Seemannssack und legte den Rest des Weges zu Fuß über die Aegidisstrasse zurück. Wie in Trance stieg er also aus der Bahn, schaute entlang der immer noch rötlichgrauen Häuserfassaden und bemerkte erst jetzt, wie schön Bottrop doch war. Er näherte sich dem alten Ziegelgebäude mit seinen losen Steinen, entfernte, nachdem er sich vergewissert hatte, dass ihn niemand beobachtete, den immer noch losen Block und stellte fest, dass seine Geheimnisse noch vorhanden waren. Er griff in die Jackentasche und zog das Flug- und Bahnticket heraus und legte diese seinen Schätzen bei. Dann verschloss er mit dem Ziegel wieder seinen Geheimbunker und machte sich lächelnd auf den Heimweg. Nur noch ein paar Meter, dann war er daheim. Er klingelte. Eine alte, eingefallene Frau öffnete ihm die Tür – es war seine Mutter. Sie blickten sich nur kurz in die Augen und fielen sich dann in die Arme. „Willkommen zu Hause, mein Junge. Ich wusste, dass Du kommst, habe es gespürt“. Siggi folgte ihr in die Stube und stellte fest, dass sie ihn tatsächlich bereits erwartet zu haben schien. Es sah jedenfalls so aus. Es stand „sein“ Kaffeegedeck auf dem Wohnzimmertisch, und dass es nach frisch gebackenem Apfelkuchen roch, hatte er bereits auf der Straße vor dem Haus wahrgenommen. Liebevoll hatte sie alles zurecht gestellt. Den Kuchen hatte sie bereits in kleine handliche Stücke geschnitten und der frisch aufgebrühte Kaffe wartete in einer Kanne auf einem Stövchen darauf, bald getrunken zu werden. Mutter hatte ihn also tatsächlich erwartet. Tag für Tag glaubte sie an seine Rückkehr, nur heute war sie sich sicher, dass er kommen würde. Endlich war er wieder daheim auf dem Pütt! Wie gut das tat…. Kurz nach seiner Heimkehr erhielt er eine gut bezahlte Stelle als Meister in einem Bauunternehmen. Er begann sogar, seine Gedanken, Empfindungen und Emotionen niederzuschreiben. Er verfasste sie in kleine Kapitel, die er in dem Püttblättchen, das wöchentlich erschien, veröffentlichen konnte. Sie beschrieben sein Erlebtes, den Fortgang und die Heimkehr in sein geliebtes Bottrop. Der Titel seiner Veröffentlichungen lautete: HEIMAT IST, WO PÜTT IST …….. © Christiane Rühmann (20.03.2010)