Tränen



Sie erinnerte sich an eine Frau, die sie auf einer Schulung für Kosmetikerinnen kennen gelernt hatte.

Karin war im Grunde genommen sehr sensibel und einfühlsam. Allerdings hatten sie die Lebensumstände abstumpfen lassen. Weinen war ihr fremd geworden und zählte für sie als Schwäche.

Diese Frau, die in bereits fortgeschrittenem Alter ihre Ausbildung zur Kosmetikerin in Permanent-make-up absolvierte, übte auf Karin eine magische Empfindung aus.

Karin arbeitete stundenweise bei dem Ausbilder im Büro. Während der Schulungen, die die Absolventinnen wahrnehmen mussten, kam sie auch den Schülerinnen näher. In der Regel handelte es sich bei den Schülerinnen um junge Frauen, die bereits im Kosmetikbereich selbständig waren, oder vor hatten, sich im Kosmetikbereich selbständig zu machen. Man ging vor die Türe, um gemeinsam eine Zigarette zu rauchen und ein paar private Worte zu wechseln, eine Tasse Kaffee oder Tee zu trinken.

Karin fühlte sich in deren Gegenwart nie so recht wohl. Viel zu schmal war ihr finanzielles Budget, um sich annähernd so stylisch zu kleiden, wie es die jungen Leute taten. Diese Frau jedoch, die sie bereits aus vorangegangenen Schulungen kannte, machte auf sie einen relativ unkomplizierten Eindruck und war ihr auch sympathisch. Stets brachte sie irgendwelche Geschenke in Form von selbst gemachter Marmelade oder Konfitüre mit, von der auch Karin jeweils etwas abbekam.

An einem dieser Schulungstage schaute diese Frau in Karins Augen und meinte:

„Sie müssen weinen. Sie müssen viel mehr weinen.“

„Wieso“, wollte Karin wissen, „warum sollte ich das tun?“

„Weil sie ein Problem haben, dessen Sie sich entledigen sollten. Fressen Sie nicht alles in sich hinein. Weinen hilft und durch die Tränen werden negative Gedanken aus Ihrem Körper ausgespült. Ihr Gesicht wird sich noch mehr verschönen und Sie werden sich wieder wohl fühlen.“

„Wie kommen Sie darauf, dass ich mich nicht wohl fühle, und woher wollen Sie wissen, dass ich nicht weine?“, interessierte sich Karin.

„Sie sind schlau, aber Sie sind unglücklich“, antwortete die Frau.

Karin wurde unwohl. Es war so. Die Frau hatte Recht. Immer dann, wenn es krass wurde, beschwor sich Karin, nicht weinen zu wollen, um sich ihre eigene innere Stärke zu beweisen. Grund zum Weinen hatte sie ja genug in ihrem Leben, vor allen Dingen in den letzten Jahren gehabt. Immer bemühte sie sich, negative Dinge und Schicksalsschläge zu überwinden, indem sie nicht weinte, immer die Starke zu mimen. Woher erkannte diese Frau, die ihr vollkommen fremd war, was ihr fehlte?

„Woher wollen Sie denn wissen, ob ich unglücklich bin?“, fragte Karin provokant die Mittsechzigerin.

Diese lächelte Karin nur an und meinte:

„Denken Sie mal an meine Worte, wenn Sie Zeit für sich haben. Lassen Sie Ihren Tränen freien Lauf, weinen sich alles von der Seele, bedauern sich, lieben sich, pflegen sich und geben Sie sich selbst eine Chance, wieder in Ihr Gleichgewicht zu kommen. Sie werden bemerken, dass es Ihnen danach besser geht.“

Karin verblüffte diese Aussage und sie bemerkte, wie es ihr unangenehm wurde, dieser Frau gegenüber zu treten. Röte trat in ihr Gesicht, fast schon Scham.

Aber warum war es ihr unangenehm? Hatte sie letztendlich Recht, hatte sie die richtige Diagnose getroffen? Ihr war auf einmal nicht mehr wohl und sie sehnte sich dem Feierabend entgegen. Grübelnd hatte sie sich von der Truppe verabschiedet, ging zu ihrem Fahrzeug und fuhr nachdenklich nach Hause.

Noch am selben Abend überkam sie der Gedanke an ihr gebeuteltes und hartes Leben. Nie hatte sie wirklich darüber nachgedacht. Im Gegenteil, stets wollte sie alles meistern und hatte sich selbst dabei aus den Augen verloren, aber auch alles gemeistert.

Als sie zu Bett gehen wollte,  im Bad stand, und sich der Pflege hingab, fiel ihr ein Spiegel zu Boden, der in hunderte von Splittern zerbarst. Niemals zuvor hatte sich Karin darüber geärgert oder gewundert. Allzeit hatte sie es so hingenommen. Heute war es anders.

„Mist“, sagte sie lautstark zu sich selbst, weil sie sich ärgerte, so ungeschickt gewesen zu sein, den Kosmetikspiegel fallen gelassen zu haben.

Plötzlich begann sie zu weinen. Ihre Tränen wollten nicht mehr aufhören, über ihr Gesicht zu rinnen. Wieder war sie in Versuchung, sich zu zwingen, nicht zu weinen, doch dann erinnerte sie sich an die Worte der Frau:

„Sie weinen zu wenig.“

Karin konnte sich nicht erklären, warum sie es jetzt tat. Sie weinte, fast unaufhörlich, etwa zehn Minuten lang. Schluchzend saß sie auf dem Badezimmerteppich und ließ den Tränen ihren Lauf.

Lange Momente, in denen ihre negativen Erlebnisse vor ihren Augen einen Film bildeten, der niemals enden wollte. Hatte das einen Sinn? Tränen?

Karin beruhigte sich allmählich wieder, und die Frau fiel ihr ein, der sie morgen wieder gegenüber stehen würde. Würde diese das bemerken?

Irgendwie erleichtert erhob sie sich, ordnete noch kurz ihr Haar, sammelte die Spiegelscherben auf, warf diese in den Mülleimer, und ging ins Bett.

‚Habe ich da jetzt etwas weggeworfen, was mich belastet hat?‘, dachte sie, als sie langsam dem Schlaf verfiel.

Am anderen Morgen ging sie wieder ihrer Bürotätigkeit nach. Die Schülerinnen waren bereits eifrig damit beschäftigt, ihrer Ausbildung nachzugehen, als diese ältere Frau auf Karin zutrat, ihr in die Augen schaute und meinte:

„Hat gut getan, oder? Weiter so, es wird Ihr Leben erleichtern…“

Merkwürdig. Sie lächelte die Frau an und streckte ihr ihre Hand entgegen, die behutsam angenommen und von der anderen umschlungen, irgendwie liebevoll, gedrückt wurde.

Karin begegnete dieser Frau nie wieder. In ihrem Küchenschrank befanden sich jedoch noch fünf  Gläser mit selbstgemachter Marmelade, die ihr diese Person eigens mitgebracht hatte.

Seither wird Karin bei jedem Frühstücksbrot daran erinnert, dass auch Tränen sich sehr hilfreich auf gebeutelte Seelen auswirken können……

© Christiane Rühmann

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